In der Dunkelheit

Veröffentlicht auf von Rhodaner

In der Dunkelheit

 

Eine kleine Gruselgeschichte

Michael Schäfer © 2008

 

 

Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Im Moment sah ich nur schwarze Schatten und nebelartige Schwaden, die in Massen um mich herumschwebten. Mit den Sekunden, die schleichend verstrichen, gewann ich auch meine Sehkraft zurück.

Obwohl es an diesem Ort sehr finster war, konnte ich die Schwärze mit meinen Augen durchdringen. Bedächtig sah ich mich um. Ich wusste nicht, wie ich hierher gekommen war, und ich wusste auch, dass ich zum ersten Mal hier war. Doch ich kannte diesen Ort. Ohne zu ahnen woher und warum, ging ich fünf Schritte nach vorne, mit ausgestreckten Armen. Nach genau diesen fünf Schritten berührte ich etwas raues, festes, und etwas in meinem Unterbewusstsein sagte mir, dass das eine Tür war, die nach draußen führte.

Langsam ließ ich meine Hand an der verwitterten Oberfläche hinabgleiten und bekam eine Türklinke aus kaltem Metall zu fassen. Behutsam drückte ich sie nach unten. Ich wartete auf das ohrenbetäubende Quietschen, das unweigerlich folgen musste, doch die Tür schwang ohne einen einzigen Laut widerstandslos auf.

Von draußen strahlte mir nun ein rotes Leuchten entgegen, die einzige Lichtquelle an diesem seltsamen Ort der undurchdringbaren Schwärze. Es ging von einem Fels aus, der in einer unabschätzbaren Entfernung aus dem Boden ragte. Diesem Anhaltspunkt folgend, ging ich auf den Schein zu.

Zum ersten Mal, seit ich mich an diesem Platz befand, bemerkte ich, dass ich keinerlei Angst verspürte. Vielleicht machte das die Unwirklichkeit dieses Ortes aus, doch ich wusste, dass da noch etwas anderes war, das diese Unerschrockenheit auslöste. Es war diese seltsame Vertrautheit. Das Gefühl, heim zu kommen, obwohl ich mich nach einem solchen Zuhause niemals wirklich gesehnt hatte.

Doch nach was hatte ich mich überhaupt gesehnt? Diese Frage konnte ich nicht beantworten. Ich erinnerte mich nicht. Wer war ich überhaupt? Mein Geist war losgelöst von meinem Körper, die feste Verankerung zwischen ihnen war aufgebrochen. Meine Seele glitt in eine Richtung davon, die ich nicht kontrollieren konnte. Doch sie zog mich hinterher, unweigerlich immer näher an den Fels heran.

In mein Blickfeld kam nun auch der Ursprung des roten Lichtes, der sich nicht auf, sondern hinter dem Fels befand. Wenn ich noch Gewalt über meinen Geist und meine Gedanken gehabt hätte, hätte ich vor Erstaunen laut aufgeschrieen. Doch so nahm ich die Tatsache, dass eine leuchtende rote Kugel direkt hinter dem Fels über einem Abgrund in der Luft schwebte, mit einem Gleichmut auf, der erschreckend war, wäre jemand da gewesen, der das registriert hätte. Doch da war niemand. Niemand außer mir, und ich konnte meine Gedanken nicht einmal in diese Richtung zwingen.

Mein Geist zog mich immer weiter auf den Abgrund zu. Ich konnte nicht dagegen ankämpfen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ohne jeglichen Widerstand folgte ich seinem Ruf und ging wie in Trance auf die Kante im rot schimmernden Felsgestein zu.

Am Abgrund angekommen, warf ich einen Blick zurück. Hinter mir war nicht viel zu erkennen. Das rote Leuchten beschränkte sich auf seine unmittelbare Umgebung und erhellte den Platz, wo sich die Tür befinden musste, nicht. Sowohl vor als auch hinter mir lag eine tiefe, endlose Schwärze, die jeden Geist mit Angst erfüllt hätte. Nicht jedoch den meinigen.

Eine Stimme in meinem Kopf, aus meinem Unterbewusstsein, sagte mir, dass das, was ich suchte, in diesem Abgrund zu finden sei. Wieder ließ ich mich von meiner Seele leiten. Vorsichtig, aber vollkommen angstlos, bewegte ich mich zum Rand des Abgrunds. Dort kniete ich nieder, legte meine Hände an die steinige Kante und lehnte mich darüber hinaus.

Zuerst konnte ich absolut nicht erkennen. Dort unten war die Schwärze noch dichter als hier oben, und das Leuchten der Kugel reichte nicht weiter als bis knapp unter die Kante, die als meine Stütze diente. Mit wachen Sinnen, die nun absolut keiner Reizung mehr bedurften und sich vollkommen auf die Seltsamkeit dieses Ortes eingestellt hatten, starrte ich in die Tiefe. Doch obwohl ich so wachsam war, bemerkte ich nicht, wie jemand - oder etwas - sich von hinten an mich heranschlich und mir unvermittelt einen Stoß versetzte, sodass ich kopfüber in den Abgrund fiel.

Und ich fiel lange. Es kam mir vor, als wenn mir ein Einblick in die Ewigkeit gewährt worden wäre, ein Umstand, der Sterblichen normalerweise verwehrt bleibt. Doch noch immer konnte ich keine Angst fühlen. Mein Herz raste nicht, ich schwitzte nicht, ich atmete nicht schneller. Ich verhielt mich so, weil ich wusste, dass mich jemand retten würde. Ich wusste nicht wie und wer, doch ich wusste, dass er es tun würde. Und ich konnte schon seine Anwesenheit spüren, wie er mir immer näher kam.

Ich hörte ein Sausen über mir, und plötzlich griff jemand nach meinen Armen. Mein Fall wurde mehr und mehr gebremst, bis ich schließlich frei in der Luft hing, nur gehalten von der Gestalt, die über mir schwebte. Doch ich empfand weder Dankbarkeit meinem Retter gegenüber noch Erleichterung, dass diese Erfahrung schadlos an mir vorübergegangen war. Meine Gefühle waren noch nicht zurückgekehrt. Mein Geist hatte mich noch immer verlassen.

Dennoch wollte ich meinen Retter sehen. Deshalb drehte ich den Kopf, damit ich nach oben zu der Gestalt blicken konnte. Das einzige, was ich erblickte, waren stechende graue Augen, die mich mit einem Ausdruck der Verachtung und des Zorns musterten. Ein Anblick, der sich fest in meinem Gedächtnis verankerte, und von dem ich wusste, dass er mich nie wieder loslassen würde.

Dann wachte ich auf.

Veröffentlicht in Shortstories

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